#1

Verfassungsurteil mit Sondervotum zum Tarifeinheitsgesetz

in Deutschland 14.07.2017 12:57
von Luftdrache (gelöscht)
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Erst wenige Tage frisch ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Tarifeinheitsgesetz. Mit dem Urteil wird Nahles Gesetz im Kern bestätigt, allerdings mit Nachbesserungen, die bis 2018 angemahnt wurden.
Auch wenn im Grundsatz gilt, dass (im Konfliktfall) nur der Tarif der Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern im Betrieb gelten solle, werden in diesem Falle Tarife kleinerer Gewerkschaften verdrängt. Jedoch müssen die Rechte der kleineren Gewerkschaften besser als im bisherigen Gesetz berücksichtigt werden. Die Verfassungsrichter bestätigten insbesondere das Koalitionsrecht (das Recht Gewerkschaften zu gründen und Tarifverträge zu schließen) als Freiheitsrecht. Der Gesetzgeber darf keinen bestimmten Typus Gewerkschaft bevorzugen. das eigenständige Streikrecht kleiner Gewerkschaften, aber auch besondere Bedeutung einzelner Errungenschaften der kleinen Tarifverträge wie Sonderleistungen, Arbeitsplatzgarantien usw. Errungenschaften eines Minderheitentarifvertrages dürfen nicht verdrängt werden.
Ergänzend zum Urteil sollte festgehalten werden, dass mit Susanne Baer und Andreas Paulus zwei Verfassungsrichter nach scharfer Kritik am Urteil ein Sondervotum abgaben. In diesem Votum wird das Verdrängen von Tarifverträgen kleiner Gewerkschaften als nicht verhältnismäßig und damit verfassungswidrig bewertet.
Was bedeutet das für Gewerkschaften und Arbeitnehmer? Im großen werden die Möglichkeiten der gut in den Betrieben organisierten DGB – Gewerkschaften gestärkt. Gewerkschaften müssen miteinander kooperieren. Andererseits können auch Gewerkschaften mit schlechten Tarifen Mehrheitsgewerkschaft im Betrieb sein. So sind die christlichen Gewerkschaften nicht umsonst gern gesehener Partner von Zeitarbeitsunternehmen. Ein Stück der Durchsetzungsfähigkeit von Spartengewerkschaften wie der GDL geht sicherlich auch verloren.
Ist es Andrea Nahles gelungen, mit ihrem Gesetz die Rechte der Arbeitnehmer zu stärken? Der kommende Bundestag hat neben der Nachbesserung des Gesetzes eine weitere Option: Das Tarifeinheitsgesetz wieder abschaffen.


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#2

RE: Verfassungsurteil mit Sondervotum zum Tarifeinheitsgesetz

in Deutschland 14.07.2017 17:26
von Till (gelöscht)
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Ich halte das Tarifeinheitsgesetz für völlig vernünftig. Es geht letztlich nur darum, dass mehrere Gewerkschaften, die gleiche Arbeitnehmer vertreten, sich einigen müssen, und wenn sie dazu nicht in der Lage sind, gibt es eben einen Mehrheitsbeschluss. Also beispielsweise, wenn bei der Bahn Zugbegleiter sowohl von der GdL als auch von der EVG vertreten werden. Die Alternative wäre, dass Arbeitnehmer je nach Gewerkschaftszugehörigkeit unterschiedliche Tarifverträge hätten, was für den Arbeitgeber nicht einfacher wäre. Und bis jetzt gelten Tarifabschlüsse immer auch für nicht organisierte Arbeitnehmer; Arbeitgeber könnten argumentieren, dass die dann in Zukunft halt die schlechtesten Konditionen erhalten.

In letzter Konsequenz könnte man ohne Tarifeinheitsgesetz auch Gewerkschaften ganz abschaffen; soll doch jeder Arbeitnehmer selbst seinen Arbeitsvertrag aushandeln.



zuletzt bearbeitet 14.07.2017 17:27 | nach oben springen

#3

RE: Verfassungsurteil mit Sondervotum zum Tarifeinheitsgesetz

in Deutschland 14.07.2017 19:11
von Luftdrache (gelöscht)
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Zitat von Till im Beitrag #2
Ich halte das Tarifeinheitsgesetz für völlig vernünftig. Es geht letztlich nur darum, dass mehrere Gewerkschaften, die gleiche Arbeitnehmer vertreten, sich einigen müssen, und wenn sie dazu nicht in der Lage sind, gibt es eben einen Mehrheitsbeschluss. Also beispielsweise, wenn bei der Bahn Zugbegleiter sowohl von der GdL als auch von der EVG vertreten werden. Die Alternative wäre, dass Arbeitnehmer je nach Gewerkschaftszugehörigkeit unterschiedliche Tarifverträge hätten, was für den Arbeitgeber nicht einfacher wäre.


Letztlich ist das aber auch eine Einschränkung insofern, dass eine Gewerkschaft eingeschränkt wird. Was haben Tarifabschlüsse für eine Bedeutung, die am Ende nicht zum tragen kommen?
Natürlich sind es oftmals die kleinen Spartengewerkschaften, die eingeschränkt werden. Die GDL ist leider auch ein Beispiel, als Berufsgruppe mit sofortigen Auswirkungen im Streik (Mobilität sofort eingeschränkt) nur an die eigenen Belange gedacht zu haben und nicht an die z.B. der Zugbegleiter. Andererseits, warum sollen sich Lokführer nicht auch eigene gute Konditionen im Tarif erstreiten dürfen?

Aspekte zu den Gewerkschaften:
Die GDL bleibt letztlich ein kleines Beispiel. In den Kliniken des Landes geht es um die Konkurrenz zwischen Marburger Bund und Verdi. Auch wenn Verdi zufrieden sein könnte, da sie in vielen Kliniken die Mehrheit der Beschäftigten stellt, in dieser Doppelrolle hat auch die größte deutsche Gewerkschaft vor dem Bundesverfassungsgericht geklagt. Es ist interessant, dass in der Abwägung Verdi sich als große Gewerkschaft zur Klage entschlossen hat.
Zum anderen: Wie stellt man fest, wer die nach Mitgliedern im Betrieb stärkste Gewerkschaft ist? Der Arbeitgeber darf dieses Merkmal nicht erheben. Hieraus könnten sich durchaus im Konfliktfall längere und aufwendige Rechtsstreitigkeiten ergeben.

Zur Perspektive Arbeitgeber:
Großunternehmer haben Grund zum Jubeln. Über die Aufbauorganisation einer Holding oder Unternehmensgruppe lässt sich per Federstrich am Schreibtisch festlegen, welcher Unternehmensteil zu welchem konkreten Betrieb gehört. Kurz: Es ist möglich die Betriebe so zuzuschneiden, dass Gewerkschaften mit niedrigen Tarifen in großen Bereichen dominieren.
Ein gewichtiges Argument dafür, das Tarifeinheitsgesetz wieder abzuschaffen!

Zitat

In letzter Konsequenz könnte man ohne Tarifeinheitsgesetz auch Gewerkschaften ganz abschaffen; soll doch jeder Arbeitnehmer selbst seinen Arbeitsvertrag aushandeln.



Das ist ein interessengeleitetes Argument. Ich vermutete vorzugsweise von christlichen Gewerkschaften und DGB-Gewerkschaften. Unsere GDL oder die Gewerkschaft der Flugbegleiter kommen hier mit ihrer erfolgreichen Verhandlungsstrategie nicht vor. In der Praxis haben sie aber einen hohen Organisationsgrad.



zuletzt bearbeitet 14.07.2017 19:16 | nach oben springen

#4

RE: Verfassungsurteil mit Sondervotum zum Tarifeinheitsgesetz

in Deutschland 14.07.2017 19:24
von Till (gelöscht)
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Wie viele Arbeitnehmer eines Betriebes in welcher Gewerkschaft organisiert sind, ist ein offenes Geheimnis. Das festzustellen, dürfte jedenfalls nicht schwierig sein. Und GdL, Cockpit oder Marburger Bund sind von dem Gesetz überhaupt nicht eingeschränkt, so lange es um Lokführer, Piloten oder Ärzte geht.

Tarifverträge gelten konzernweit. Sie verwechseln das offenbar mit Haustarifen.

Dass jeder Arbeitnehmer seinen "Tarifvertrag", sprich Arbeitsvertrag, selbst aushandelt, ist nicht "interessengeleitet", sondern nur von mir konsequent weiter gedacht. Was mit den nicht organisierten Arbeitnehmern geschehen soll, haben Sie jedenfalls nicht beantwortet.



zuletzt bearbeitet 14.07.2017 19:45 | nach oben springen

#5

RE: Verfassungsurteil mit Sondervotum zum Tarifeinheitsgesetz

in Deutschland 14.07.2017 20:18
von Luftdrache (gelöscht)
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Zitat von Till im Beitrag #4
Wie viele Arbeitnehmer eines Betriebes in welcher Gewerkschaft organisiert sind, ist ein offenes Geheimnis. Das festzustellen, dürfte jedenfalls nicht schwierig sein. Und GdL, Cockpit oder Marburger Bund sind von dem Gesetz überhaupt nicht eingeschränkt, so lange es um Lokführer, Piloten oder Ärzte geht.


So auf Anhieb - offenes Geheimnis: Kannst du sagen, wer in deinem Unternehmen in welcher Gewerkschaft ist? Ich glaube wir wissen beide, dass die ehrliche Antwort "Nein." lautet.

Zitat

Tarifverträge gelten konzernweit. Sie verwechseln das offenbar mit Haustarifen.



Unternehmer und Gewerkschaften sind frei darin, welche Art Tarifvertrag sie aushandeln. Ob Konzerntarifvertrag, Firmentarifvertrag oder jegliche andere Form von Tarifvertrag. Die für den Arbeitnehmer meist beste Variante, der Flächentarifvertrag, ist bereits seit Jahren von abnehmender Bedeutung. Es findet eine Zuspitzung auf Konzerne oder einzelne Firmen. Konzerne kann man aufteilen und eine Holding drüber setzen.

Zitat

Dass jeder Arbeitnehmer seinen "Tarifvertrag", sprich Arbeitsvertrag, selbst aushandelt, ist nicht "interessengeleitet", sondern nur von mir konsequent weiter gedacht. Was mit den nicht organisierten Arbeitnehmern geschehen soll, haben Sie jedenfalls nicht beantwortet.



Weil dies kein Problem meiner Argumentation ist, sondern ein Problem deiner Argumentation.
Starke kleine Gewerkschaften bedeuten nicht, dass am Ende Jedermann selbst seinen Tarif aushandelt, sondern im Gegenteil: Ein hoher Organisationsgrad in der Branche bessere Abschlüsse ermöglicht (Beispiel GDL usw.).
Die These "Am Ende muss jeder seinen Tarif aushandeln" stammt von dir, muss daher auch von dir belegt werden und hinsichtlich ihrer möglichen Schwächen beleuchtet werden.
Deine These teile ich ohne weitere Argumente vorläufig nicht. Ich bin allerdings sehr gespannt auf deine Argumente Das Thema ist als Solches sehr interessant.

Eigentlich wirft dein Ansatz eine interessante Frage auf: Das Verhältnis nicht-gewerkschaftlich organisierter Arbeitnehmer zu den Gewerkschaften. Ist es denn gerecht, wenn nicht-gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer die gleichen Leistungen bekommen wie ihre KollegInnen in den Gewerkschaften? Die Tarifabschlüsse haben jedenfalls nur die Gewerkschaftsmitglieder erstritten....
Dementgegen ist z.B. die Mitgliedschaft aller Arbeitnehmer in der Bremer Arbeitnehmerkammer Pflicht. Sie handelt zwar keine Tarife aus. Aber bietet viele Leistungen für Arbeitnehmer an. Alle können partizipieren, daher zahlen alle.



zuletzt bearbeitet 14.07.2017 20:32 | nach oben springen

#6

RE: Verfassungsurteil mit Sondervotum zum Tarifeinheitsgesetz

in Deutschland 14.07.2017 21:06
von Till (gelöscht)
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Zitat von Luftdrache im Beitrag #5
Kannst du sagen, wer in deinem Unternehmen in welcher Gewerkschaft ist? Ich glaube wir wissen beide, dass die ehrliche Antwort "Nein." lautet.
Bei einzelnen Kollegen wusste ich es. Es kommt aber nur auf die Anzahl an. Den Gewerkschaften ist die bekannt, und so etwas spricht sich auch bis zu Vertretern der Geschäftsleitung und einzelnen Betriebsräten herum.

Zitat
Unternehmer und Gewerkschaften sind frei darin, welche Art Tarifvertrag sie aushandeln. Ob Konzerntarifvertrag, Firmentarifvertrag oder jegliche andere Form von Tarifvertrag. Die für den Arbeitnehmer meist beste Variante, der Flächentarifvertrag, ist bereits seit Jahren von abnehmender Bedeutung. Es findet eine Zuspitzung auf Konzerne oder einzelne Firmen. Konzerne kann man aufteilen und eine Holding drüber setzen.

Eine starke Gewerkschaft, in Zusammenarbeit mit einem starken Betriebsrat, wird eine zu starke Zersplitterung der Tarifverträge zu verhindern wissen, schon aus eigenem Interesse.

Zitat
Starke kleine Gewerkschaften bedeuten nicht, dass am Ende Jedermann selbst seinen Tarif aushandelt

Das ist auch nicht mein Punkt. Es geht um die Zersplitterung. Wenn drei, fünf oder zehn Gewerkschaften für, sagen wir als Beispiel, die Zugbegleiter unabhängig voneinander Tarifverträge aushandeln, und es für umso besser angesehen wird, je mehr Gewerkschaften im Boot sind, dann wäre es nur konsequent, dies jeden einzelnen Arbeitnehmer tun zu lassen. Das ist natürlich eine überspitzte Darstellung.
Grundsätzlich sehe ich in einer Zersplitterung nur eine Schwächung der Arbeitnehmervertretung.

Zitat
Eigentlich wirft dein Ansatz eine interessante Frage auf: Das Verhältnis nicht-gewerkschaftlich organisierter Arbeitnehmer zu den Gewerkschaften. Ist es denn gerecht, wenn nicht-gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer die gleichen Leistungen bekommen wie ihre KollegInnen in den Gewerkschaften? Die Tarifabschlüsse haben jedenfalls nur die Gewerkschaftsmitglieder erstritten....

Man kann da in der Tat die Gerechtigkeitsfrage stellen. Ich vermute, dass den Firmen, die die Tarifverträge auch auf nicht organisierte Arbeitnehmer ausdehnen, der Betriebsfrieden wichtiger ist.


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#7

RE: Verfassungsurteil mit Sondervotum zum Tarifeinheitsgesetz

in Deutschland 14.07.2017 22:26
von Luftdrache (gelöscht)
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Zitat von Till im Beitrag #6
Zitat von Luftdrache im Beitrag #5
Den Gewerkschaften ist die bekannt, und so etwas spricht sich auch bis zu Vertretern der Geschäftsleitung und einzelnen Betriebsräten herum.


Das ist eine Frage des Vertrauens zwischen Betrieb und Gewerkschaften bzw. auch der Gewerkschaften untereinander. Aber ok.

Zitat
[quote="Luftdrache"][Unternehmer und Gewerkschaften sind frei darin, welche Art Tarifvertrag sie aushandeln. Ob Konzerntarifvertrag, Firmentarifvertrag oder jegliche andere Form von Tarifvertrag. Die für den Arbeitnehmer meist beste Variante, der Flächentarifvertrag, ist bereits seit Jahren von abnehmender Bedeutung. Es findet eine Zuspitzung auf Konzerne oder einzelne Firmen. Konzerne kann man aufteilen und eine Holding drüber setzen.
Eine starke Gewerkschaft, in Zusammenarbeit mit einem starken Betriebsrat, wird eine zu starke Zersplitterung der Tarifverträge zu verhindern wissen, schon aus eigenem Interesse.



Hier schränkst du dich selber schon ein und sprichst von zu starker Zersplitterung. Zwei oder drei Gewerkschaften in einem Betrieb kann denk ich durchaus vorkommen. Niemand spricht gleich von 10, 12 oder mehr.
Auch sind in einem Betriebsrat durchaus verschiedene gewerkschaftliche Gruppen vertreten.

Zitat
Das ist auch nicht mein Punkt. Es geht um die Zersplitterung. Wenn drei, fünf oder zehn Gewerkschaften für, sagen wir als Beispiel, die Zugbegleiter unabhängig voneinander Tarifverträge aushandeln, und es für umso besser angesehen wird, je mehr Gewerkschaften im Boot sind, dann wäre es nur konsequent, dies jeden einzelnen Arbeitnehmer tun zu lassen. Das ist natürlich eine überspitzte Darstellung.



Ja, sie ist überspitzt. Gegen drei Gewerkschaften würde nichts sprechen. Hat bei der Bahn funktioniert.
Und von 10 oder 12 redet niemand. Das wird es in kaum einem Betrieb geben. Im theoretischen Fall das, wäre das sicher zu viel Zersplitterung.

Zitat
Man kann da in der Tat die Gerechtigkeitsfrage stellen. Ich vermute, dass den Firmen, die die Tarifverträge auch auf nicht organisierte Arbeitnehmer ausdehnen, der Betriebsfrieden wichtiger ist.



Da wirst du vermutlich Recht haben.


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