#1

Meine Zeit in Wuhan

in Dies und das 25.03.2020 16:22
von Meridian | 2.862 Beiträge

Nachdem Munro viel von seinen Erlebnissen aus der ehemaligen DDR erzählt hat, kann ich doch auch von mir mehr erzählen. Jetzt, wo man mehr Zeit hat und die Reisefreiheit noch eingeschränkter ist als zu DDR-Zeiten, möchte ich euch wenigstens virtuelle nach China entführen.

Eine kurze Station in China war Wuhan. Lange vor Corona, nämlich im März 2001. Erkältet war ich trotzdem. Vielleicht haben sich seitdem paar von mir ausgehustete Viren 19 Jahre lang in diesem feuchten Klima halten könnten und sind zum Coronavirus mutiert. Doch Spaß beiseite.

Ich war 4,5 Wochen in China, die meisten Zeit in Hangzhou (200km südwestlich von Schanghai). 1 Woche lang wurde aber eine lange Reise gemacht mit Zug und Schiff. Dabei gibt es von Hangzhou mit dem Zug nach Chongqing im südlichen Zentralchina. Die Fahrt dauerte 44h. Mit den jetzigen Zügen würde es vielleicht 15h oder sogar schneller gehen. Doch 2001 existierte in CN noch kein Hochgeschwindigkeitsnetz. 80-120km/h war auf vielen Strecken das Schnellste (nur Peking-Schanghai auch 160km/h), in bergigen Regionen war man noch langsamer. Alleine diese Zugfahrt ist ein eigener Thread wert.

Von Chongqing bis Wuhan ging es per Schiff auf dem Jangtsekiang flussabwärts durch die Drei Großen Schluchten, und zwar gerade rechtzeitig, bevor der riesige Staudamm fertiggestellt wurde. Auch das ist ein eigener Thread wert.

Während einer schlaflosen Nacht, der letzten Nacht auf dem Schiff, wurde mein Halskratzen immer aufdringlicher; eine Erkältung bahnte sich an. Kein Wunder, während dieser Reise schlief ich in 2 von 3 Nächten aus versch. Gründen nicht oder kaum.

Am frühen Morgen in Wuhan angekommen empfing uns eine kalte Luft, die letztlich auch erfrischend war. Am Hafen warteten schon Taxis. Dort gaben wir dem Taxifahrer eine chinesisch bedruckte Adresse, welche uns in eine Reisevermittlung brachte. Solche Adressen bekamen wir noch in Hangzhou für Chongqing und Wuhan, also in den 2 Städten, wo das Fernverkehrsmittel gewechselt wurde.


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#2

RE: Meine Zeit in Wuhan

in Dies und das 25.03.2020 16:33
von Meridian | 2.862 Beiträge

Wuhan machte am Hafen fast einen leicht europäischen Eindruck, da in der Nähe ein Uhrenturm stand, wie man es in vielen englischen Städten vorfindet.
Das Taxi fuhr uns eine halbe Stunde kreuz und quer durch die Gegend. Dabei verschwand der anfangs europäische Eindruck rasch. Meistens sah man die üblichen plattenbau-ähnlichen Hochhäuser, eine typische chinesische Millionenstadt. Schließlich hielt das Taxi an, und wir wurden von einer jungen Dame empfangen, die uns in ein Hochhaus in den 9. Stock führte in einem Raum, der wohl ein Reisebüro sein sollte. Die Wände waren recht kahl, sonst ein Schreibtisch mit Computer, ein paar Stühle, und auf dem Boden war ein fleckiger grauer Teppich, der wohl noch nie gewaschen wurde.

Die junge Dame war wohl froh, dass sie sich endlich mit Leuten unterhalten konnte, die durch die Gegend reisen. Reisetourismus war in China noch in den Anfängen, und sie zeigt uns Bilder, wo sie mit Freuden Bergwanderungen in der Provinz Sichuan unternahm. Bergwandern war noch ganz neu. Die meisten Chinesen sahen Berge nicht als attraktiv, sondern als Hindernis an, oder sie waren heilig, weswegen sie man erst recht in Ruhe ließ.

Doch dann vermittelte sie und Tickets für die letzte Reiseetappe zurück nach Hangzhou. Es war ein Schnellzug, der für die 1050km etwa 15h brauchen sollte. Leider gab es keine Liegeplätze mehr, sondern nur noch Sitzplätze in der 2. Klasse. Eine weitere schlaflose Nacht erwartete uns, aber wenigstens waren die Plätze billig, pro Person umgerechnet ca. 35DM.

Nachdem das erledigt war, führte sie uns noch in ein Restaurant, das sie uns empfahl und - auf eine Bushaltestelle hinweisend, sagte sie uns noch, welche Linie zum Bahnhof führt.


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zuletzt bearbeitet 25.03.2020 16:34 | nach oben springen

#3

RE: Meine Zeit in Wuhan

in Dies und das 25.03.2020 16:52
von Meridian | 2.862 Beiträge

Trotz Erkältung hatten wir Hunger, denn wir haben noch nichts gegessen, und es ging fast schon auf Mittag zu. Im Restaurant war man begeistert, von westlichen Ausländern beglückt zu werden, und sie wollten uns das große Menu aufdrehen. So viel wollten wir auch nicht. Wir bestellten Suppe, scharfe Bratkartoffeln und ein Hauptgericht, an das ich mich nicht mehr erinnern konnte. Offenbar war es nicht mehr interessant, denn wesentlich interessanter waren die erstgenannten Gerichte.

Bratkartoffeln auf chinesisch bedeutet: Sehr fein geriebene Kartoffeln (etwa so, wenn man sie mit einer feinen Käsereibe bearbeitet, aber nicht die sehr feine für Parmesan). Diese werden mit einigen Chilis und etwas Salz in einen Wok mit sehr heißem Öl geworfen und vielleicht 1min heftigst gebraten. Wir haben dieses leicht scharfe und einfache Gericht liebgewonnen. Doch hier in Wuhan sahen die "Kartoffeln" äußerst merkwürdig aus: irgendwie nicht gebraten, von der Konsistenz gummi-artig und eher fleischern schmeckend. Eine kleine falsche Betonung in der Aussprache dieses Gerichts bescherte uns statt Bratkartoffeln: Kuddeln
Essbar waren sie trotzdem für uns. Komischerweise mochte ich sie, obwohl die Art Konsistenz mich eigentlich anekelt. Vielleicht war es der Hunger oder eine wegen der Erkältung veränderte Geschmackswahrnehmung. Oder der Kulturschock.

Auch die Suppe hatte es in sich. Sie enthielt Fisch (Vorsicht: Fische werden in China nie entgrätet, auch nicht in der Suppe) und eine schwarze und ziemlich feste Substanz, die nicht schlecht schmeckte. Es dauerte eine Weile, bis uns klar war, was das war: Es waren 1000-jährige Eier, kurz: hartgekochte faulige Eier. Es fiel auf, dass nach dieser Erkenntnis diese schwarze Substanz mehr unbewusst als bewusst gemieden wurde. Da sie sich in der Suppenschüssel immer mehr konzentrierte, rocht es immer stärker nach Schwefel.

Noch eine Anmerkung, wie Mahlzeiten in Restaurants serviert werden. Jeder bekommt eine kleine Schüssel mit Porzellanlöffel und ein Set Stäbchen. Die festen Gerichte werden auf kleinen Platten in die Mitte des Tisches serviert, Suppe gibt es in der Suppenschüssel mit Schöpfkelle. Natürlich nimmt man mit der Kelle von der Suppe in die eigene Schüssel und isst / schlürft sie mit dem Löffel. Feste Gerichte nimmt man mit den Stäbchen direkt von den Servierplatten. Einen eigenen Teller gibt es dafür nicht. Was von den Stäbchen auf dem Weg zum Mund auf den Tisch fällt, lässt man aus hygienischen Gründen besser liegen.
Kurz: Es bestellt niemand für sich selber, sondern man bestellt zusammen verschiedene Gerichte.

Zum Trinken gibt es immer Tee, und zwar umsonst. Die Qualität des Tees orientiert sich an der Feinheit des Restaurants. Das Restaurant in Wuhan war gehoben, aber nicht das beste. In Garküchen wird bitterer Tee mit den Blättern in kleinen Plastikbechern serviert; in feinen Restaurants kann man auch Chysanthementee bekommen. Alkoholische Getränke (Bier, Reiswein, Hirseschnaps) kann man auch bestellen, sind aber nicht mehr umsonst.


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zuletzt bearbeitet 25.03.2020 16:53 | nach oben springen

#4

RE: Meine Zeit in Wuhan

in Dies und das 25.03.2020 17:21
von Meridian | 2.862 Beiträge

Nach dem etwas merkwürdigen Essen waren wir dennoch satt, und es ging zur Bushaltestelle. Der Bus lies nicht lange auf sich warten. Er sah alt und primitiv aus. Der Boden bestand aus Holzbrettern, wobei zw. den Brettern die Straße teilweise sichtbar war. Die Stühle waren roh aus Holz gezimmert.

Neben der Busfahrerin war noch eine 2. Bedienstete im Bus. Sie kassierte das Fahrgeld. Die Fahrt dauerte etwas 30min, und sie ging auf die Substanz. Es gab keine Stoßdämpfer, aber dummerweise bestanden die Straßen häufig aus Betonplatten, die eher schlecht zusammengesetzt waren. Der Motor war schwach, aber trotzdem laut. Die Fahrerin musste zw. den Haltestellen Vollgas geben, um den Bus überhaupt auf vielleicht 40km/h zu bringen. Die Gangschaltung erfolgte mechanisch mit Zwischengas. Beim Bremsen quietschte es heftig. Noch dazu, dass bei Gefälle die Chinesen gerne den Motor auskuppeln und immer leicht bremsen. Nicht ungefährlich. Die Fahrt führte über den Jangtse über eine lange Brücke und letztlich zum Bahnhof.

Am Bf. hatten wir noch ein paar Stunden Zeit, die wir irgendwie totschlugen, unter anderem auch die öffentlichen Toiletten aufgesucht, wo jedenfalls in der Männertoilette gepisst wurde, wo es einem passte. Man musste aufpassen, wo man hintrat. Die Chinesen scheint's nicht zu stören.

Der Bf. selber war wie jeder zumindest größere Bf.: Gepäckdurchleuchtung, dann in den Warterraum und auf die Anzeige schauen. Auch wenn die Anzeige auf chinesisch erfolgt, muss man sich nur nach den Zugnummern orientieren, denn die bestehen aus Zahlen und außer den langsamsten Zügen auch mit einem lateinischen Buchstaben davor. Als dieser angezeigt wurde, kam das Boarding, nämlich das Entwerten der Fahrkarte bereits im Bf-Gebäude. Anschließen ging es zum richtigen Gleis. Auf dem Weg dahin begegneten uns überraschenderweise ein junges deutsche Paar. Wir tauschten uns kurz aus, mussten aber weiter zum Gleis, wo der Zug schon wartete. Dieser hatte 15 Waggons und 1 Diesellok, und an jeder Tür stand ein Schaffner, der nochmals einen Blick in die Fahrkarten sehen wollte, um sicher zugehen, dass wir den richtigen Waggon erwischen. Lange Wanderungen durch die Waggons sind in China nicht gerne gesehen.

Unser Zug war ein K mit einer 3-stelligen Nummer. K bedeutet Schnellzug und war damals die zweitschnellste Kategorie. Es waren Züge mit relativ modernen Waggons und einer Höchstgesch. von 120km/h. Das gilt bis heute, doch heute sind sie die dritt-langsamste Kategorie. Waren sie auch damals, doch damals gab es nur eine Kategorie über K, nämlich T, was damals als "besonders schnell" bezeichnet wurde. Das waren Züge, die die 160km/h-Strecken befuhren. Inzwischen gibt es 3 Fernzugkategorien, die schneller als T sind. Der T ist dabei selber auf 140km/h degradiert worden. Die beiden Kategorien unter K sind:
Zahl bis 4999 ohne Buchstaben: Eilzug, alte Waggons, wie der K bis 120km/h, hält aber öfter. Diesen Zug benutzten wir auf der Hinfahrt von Hangzhou nach Chongqing
Zahl über 5000 ohne Buchstaben: langsamster Zug, max. 100km/h

Ich schreibe bewusst langsamster Zug und nicht Nahverkehrszug. Denn Schienennahverkehr gibt es in China so gut wie nicht. das wickeln die Busse ab. In den Großstädten machen es die U-Bahnen, die in den Außenästen oft oberirdisch fahren und S-Bahncharakter bekommen. Bsp.: Auf der alten Strecke zw. Schanghai und Hangzhou gibt es auf 200km gerade mal 6 Zwischenhalte, und das bei einer Bevölkerungsdichte wie im Ruhrgebiet. Wenn ich daran denke, dass die IC und ICEs zw. Hamm und Köln über Düsseldorf alleine mindestens 5 Halte bedienen. Dortmund, Bochum, Essen, Duisburg, und Düsseldorf, manche auch zusätzlich in Mülheim an der Ruhr, D-dorf Flughafen oder Köln-Deutz.


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#5

RE: Meine Zeit in Wuhan

in Dies und das 25.03.2020 17:29
von Meridian | 2.862 Beiträge

Wir fanden bald unsere Plätze:
schmal mit steilen und nicht verstellbaren Lehnen, also quasi ein gepolstertes Klostergestühl. Das soll unser Domizil für die nächsten 15h mitten durch die Nacht werden. Immerhin wirkte der Waggon viel moderner als der Zug auf der Hinfahrt, doch in letzterem hatten wir Liegewagen ("hard sleeper").

Beim Verlassen von Wuhan ging es durch einen Bereich, den man wirklich als Elendsviertel bezeichnen konnte. Zwar waren die baracken-artigen Gebäude gemauert, aber statt Fenster hatten sie unförmige Löcher, also ob Backsteine fehlten. Danach ging es relativ zügig, wahrscheinlich mit 120 km/h auf einer offenbar neuen Strecke mit ruhiger Fahrweise und ausnahmsweise ohne Gleisrattern durch eine flache Landschaft, wie das letzte Sonnenlicht noch zeigte.

Damit endet der Bericht aus Wuhan. Ich habe ihn vorgezogen, weil Wuhan ja die erste Stadt ist, wo Corona seinen Anfang nahm. Mir wird so richtig bewusst, dass dort schon einmal war.

Weitere Episoden aus China würde ich gerne erzählen, wenn Interesse besteht.


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