#1

Trendsetter oder die Diktatur des Zeitgeistes

in Allgemeine philosophische Betrachtungen 01.06.2019 10:33
von Anthea | 12.408 Beiträge

Wobei sich die Frage stellt, ob eigentlich der Zeitgeist autark ist. Schließlich beinhaltet er das anspruchsvolle Wort „Geist“. Oder wird er manipuliert vom Trendsetter? Alle hören auf dessen Kommando. Und wenn nicht, dann ist derjenige nicht „up to date“ nicht zeitgemäß. Trendsetter oder Trendsetting sind beliebig und nicht wirklich vorhersehbar. Was kommt an, was ergreift? So mitten ins Herz oder tief ins Begehren hinein?

Kirstine Fratz ist Kulturwissenschaftlerin und Zeitgeist- Expertin und schreibt in ihrem Buch „Über den Zeitgeist und wie er uns vorantreibt“:
"Der Zeitgeist ist ein temporäres Versprechend für die aktuelle Idee eines gelungenen Lebens. Er treibt uns voran, Mängel zu beheben. Er besitzt die Kraft, ganze Märkte zu drehen. (…) Der Zeitgeist ist flüchtig und untreu. Er ist das Fieber des Aufbruchs, nicht die Gewissheit des Ankommens – und keiner kann sich ihm entziehen."

Ich meine, dass man dies lernen kann, sich entziehen und verweigern? Dieses Genügende „ich bin, was ich bin“. Und - wie es eine Werbung sagt - : „Ich will so bleiben wie ich bin“...

Und Empfehlung von Kirstine Fratz: „Eltern können und müssen Impulse setzen, und wir alle müssen lernen, eigene Entscheidungen zu treffen. Den Zeitgeist zwar zu nutzen, uns ihm aber nicht zu opfern und es auch mal auszuhalten, temporär nicht dabei zu sein. Denn schon jetzt wächst ein neuer Mangel heran: Wir kommen nie an. Wir müssen uns ständig neu erfinden und optimieren. Aus diesem permanenten Werde-Druck, dem Gebot der Dauer-Effektivität, selbst bei der Entspannung – daraus wird der nächste Zeitgeist entstehen."

Es ist eigentlich das immer gleiche. Man möchte etwas haben, man wünscht es sich so sehr, und wenn man es erst einmal hat, dann wird es zur Gewohnheit. Es „erregt“ nicht mehr. Das Glücksgefühl hat sich verflüchtigt und lässt Platz für ein neues. Das ist z.B. das Wesen des Kaufrausches, der Zwänge. So muss etwas Neues her. Schon Goethe ließ seinen Faust sagen: „So tauml ich von Begierde zu Genuss und im Genuss verschmacht ich nach Begierde.“

Der „Zeitgeist“ ist ein unermüdlicher Motor. Er will, dass man ihm Genüge tut. So viel hängt daran. Nicht zuletzt ganze Industrien und Berufszweige. Und „Denker“. Auf der Suche nach dem Optimalen – Glück.

Aber: Muss man alles mitmachen? Learning by doing? Dauer-Akzeptanz des Scheiterns vorausgesetzt?

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Ich bin der Wahrheit verpflichtet, wie ich sie jeden Tag erkenne, und nicht der Beständigkeit.
Mahatma Gandhi


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#2

RE: Trendsetter oder die Diktatur des Zeitgeistes

in Allgemeine philosophische Betrachtungen 01.06.2019 18:10
von moorhuhn | 1.486 Beiträge

Schönes Thema

In meiner persönlichen Entwicklung habe ich den Zeitgeist unterschiedlich bewertet.
In meiner Jugend war er gleichzusetzen mit den Werten und Normen meiner elterlichen Erziehung und dem real-sozialistischen Mangelzustand, den es zu überlisten galt bzw. war Zeitgeist im Rahmen der materiellen Möglichkeiten klar definiert. "Beziehungen und Westgeld" waren die Grundlagen um wenigstens annähernd im materiellen Bereich "mithalten" zu können. Ich erinnere mich dabei besonders an Barbiepuppen, Jeans und Bananen, lach

Nach der Wende änderte sich das aber, für mich hatten dann mehr die ideelen Werte Priorität hatten, kaufen konnte ich ja jetzt alles.
Aus eigener Kraft erreichen, dass man inmitten der Gesellschaft einen Platz findet, sich Anerkennung und Zufriedenheit einstellen. Dadurch, dass ich immer einen sicheren Arbeitsplatz hatte, und von Berufs wegen auch über Zeitgeist und gesellschaftliche Strukturen sehr viel gelernt und relativiert habe, ist mir sehr schnell klar geworden, was Kristine Fratz mit "Der Zeitgeist ist flüchtig und untreu. Er ist das Fieber des Aufbruchs, nicht die Gewissheit des Ankommens ..." beschreibt.

"Angekommen zu sein" hat viel mit innerer Zufriedenheit, Sozialität und Selbstbewusstsein zu tun, ist nicht abhängig von materiellem Besitz und fragt nicht nach der Meinung von Anderen.
Ich glaube, dass allein diese Erkenntnis schon ein guter Start für das "Ankommen" ist, allerdings braucht es sehr viel persönliche Stärke, diesen Weg zu gehen. Und er wird wohl auch das ganze Leben andauern, weil verschiedene Phasen verschiedene Prioritäten setzen.

Wovon ich mich schon lange erfolgreich abgegrenzt habe, ist der materielle Zeitgeist, Gesundheitsgurus und Parteiprogramme.
Liegt aber wahrscheinlich daran, dass mir das ökonomisch und persönlich gesehen möglich ist. Ich muss niemanden mehr irgendwas "beweisen", auf irgendwelchen Märkten bestehen oder "Mängel beheben".


Der frühe Vogel kann mich mal !
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#3

RE: Trendsetter oder die Diktatur des Zeitgeistes

in Allgemeine philosophische Betrachtungen 01.06.2019 18:19
von Anthea | 12.408 Beiträge

Liebes moorhuhn, das Thema spricht auch das Problem des "dabei sein wollens" von Jugendlichen an, die meinen, sich durch z.B. gleiche Markenkleidung identifizieren zu müssen. Als "Eintrittskarte". Dabei sein wollen.
Nicht kleckern, klotzen.

Ein Lob an Eltern, die es schaffen, ihr Kind selbstbewusst zu machen ohne Nacheiferei. Es ist und war immer schwer, einen "besonderen Geschmack" individueller und nicht Nachahmart zu haben.
"Wie du kommst gegangen..." Und Kinder/Jugend ist grausam, wenn jemand aus dem Rahmen der "Gleichmacherei" auf oberflächlichem Gebiet fällt.

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Ich bin der Wahrheit verpflichtet, wie ich sie jeden Tag erkenne, und nicht der Beständigkeit.
Mahatma Gandhi


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#4

RE: Trendsetter oder die Diktatur des Zeitgeistes

in Allgemeine philosophische Betrachtungen 01.06.2019 18:30
von moorhuhn | 1.486 Beiträge

Zitat von Anthea im Beitrag #3
das Thema spricht auch das Problem des "dabei sein wollens" von Jugendlichen an, die meinen, sich durch z.B. gleiche Markenkleidung identifizieren zu müssen. Als "Eintrittskarte". Dabei sein wollen.
Nicht kleckern, klotzen.


Ja, das ist richtig, Anthea. Wobei ich aber mal eine vorsichtige Prognose wage, die bei den jungen Eltern von heute darauf hinausläuft, dass im materiellen/ökologischem Bereich ein Umdenken stattfindet. Man muss es nur modern verkaufen, lach

Man wird heute den Kids Handy und co nicht mehr ausreden können, aber z.B., was Klamotten angeht, das Bewusstsein für ökologische Herstellung etc. stärken können.
Wahrscheinlich sehe ich das auch so unverkrampft, weil ich in einem Kiez lebe und arbeite, Linke und Grüne haben vergangenen Sonntag 42 % im Stadtrat geholt.


Der frühe Vogel kann mich mal !
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#5

RE: Trendsetter oder die Diktatur des Zeitgeistes

in Allgemeine philosophische Betrachtungen 02.06.2019 20:02
von kuschelgorilla | 3.292 Beiträge

Eine Facette des Zeitgeistes, der schon seit Zeiten existiert greift ein Artikel im Rubikon auf...
Viel Spaß beim Lesen...

https://www.rubikon.news/artikel/marionetten-der-macht


Meine Motivation ging heute morgen winkend und lächelnd an mir vorbei


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#6

RE: Trendsetter oder die Diktatur des Zeitgeistes

in Allgemeine philosophische Betrachtungen 02.06.2019 20:37
von moorhuhn | 1.486 Beiträge

Mei, das alles stimmt aufs Wort.

Mit dem Schiller kenn ich mich ja aus und weiß, dass er schon anno Zwieback seine freigeistigen Ansprüche dem schnöden Mammon opfertn musste.

Die Frage ist ja nur, wofür leben wir? (hochphilosopisch)
Inwieweit bestimmen solche Tendenzen unser Leben? Und welchen Stellenwert haben freigeistige, vom Bruttosozialprodukt unabhängige Gedanken überhaupt noch?


Der frühe Vogel kann mich mal !
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#7

RE: Trendsetter oder die Diktatur des Zeitgeistes

in Allgemeine philosophische Betrachtungen 02.06.2019 20:59
von kuschelgorilla | 3.292 Beiträge

Liebes moorhuhn, das sollte sich jeder von uns immer und immer wieder selbst fragen.
Ich für mich habe die Frage für mich aktuell beantwortet und nicht dem Zeitgeist unterworfen...


Meine Motivation ging heute morgen winkend und lächelnd an mir vorbei


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#8

RE: Trendsetter oder die Diktatur des Zeitgeistes

in Allgemeine philosophische Betrachtungen 02.06.2019 21:16
von moorhuhn | 1.486 Beiträge

Jo, ein Segen, wenn man das kann, Kuschelgrilla.


Der frühe Vogel kann mich mal !
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#9

RE: Trendsetter oder die Diktatur des Zeitgeistes

in Allgemeine philosophische Betrachtungen 02.06.2019 21:24
von kuschelgorilla | 3.292 Beiträge

Aber das Spiel läuft ja immer wieder mehr oder weniger erfolgreich immer und immer wieder aufs Neue... Das berühmtberüchtigte moralische Hamsterrad...


Meine Motivation ging heute morgen winkend und lächelnd an mir vorbei


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#10

RE: Trendsetter oder die Diktatur des Zeitgeistes

in Allgemeine philosophische Betrachtungen 02.06.2019 21:33
von all it (gelöscht)
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Zitat von moorhuhn im Beitrag #6
Und welchen Stellenwert haben freigeistige, vom Bruttosozialprodukt unabhängige Gedanken überhaupt noch?

Einen durchaus noch hohen. Abgesehen davon, dass niemand daran gehindert wird, Philosoph zu werden, leisten wir uns teure Großforschungseinrichtungen (national wie international) zur reinen Grundlagenforschung (Kernphysik, Elementarteilchenphysik, Plasmaphysik, Astronomie, Raumfahrt, ...), neben vielen anderen, die sowohl Grundlagen- als auch angewandte Forschung betreiben.



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#11

RE: Trendsetter oder die Diktatur des Zeitgeistes

in Allgemeine philosophische Betrachtungen 02.06.2019 22:46
von moorhuhn | 1.486 Beiträge

All it, klar kann man Philosoph werden, die Frage ist ja nur, ob man dann auch davon leben kann.

Ich habe z.B. eine ehemalige Schülerin und sehr gute Bekannte, die hat Ägyptologie studiert und einen Doktor in Germanstik gemacht. Bis auf gelegentliche Honorarjobs ist sie auf dem Arbeitsmarkt nicht angekommen und lebt mit 40 in ihrem Elternhaus. Muss ich mich das jetzt so vorstellen,dass sie einen hohen philosophischen Stellenwert hat, den aber keiner nachfragt?
Angewandte Forschung findet im NAWI- Bereich statt, jegliche kulturelle und historische Belange sind außen vor.


Der frühe Vogel kann mich mal !
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#12

RE: Trendsetter oder die Diktatur des Zeitgeistes

in Allgemeine philosophische Betrachtungen 03.06.2019 12:03
von kuschelgorilla | 3.292 Beiträge

Liebes moorhuhn, lieber till,

damit zeigt ihr die zwei Seiten ein und derselben Medaille...
Gut? Schlecht? Weder das eine noch das andere. Beides wird gebraucht.
Dennoch bin ich der Meinung, dass es mehr unabhängige Forschung/Wissenschaft braucht.
Ich denke da vor allem daran, dass man eigentlich schon 1979 alle wichtigen Fakten zum Klimawandel an der Hand hatte, Konzerne aber, als es Ende der 80er ans Eingemachte hinsichtlich einer internationalen Konvention ging, massiv mit Gegenstudien eine Gegenstimmung aufbauten, so dass wir bis heute noch nichts auf die Beine stellen konnten.

Die Diktatur des Zeitgeistes sagt hier:
Ökonomen, so wie ihnen gesagt würde, die Welt ginge in zwei Wochen unter, wenn man nichts unternähme, würden sich immer für den kurzfristigen Profit entscheiden. Leider sind viel Annahmen der Ökonomen, auf die deren "Systeme" sich aufbauen, schlichtweg unvollständig bis falsch.


Meine Motivation ging heute morgen winkend und lächelnd an mir vorbei


zuletzt bearbeitet 03.06.2019 12:06 | nach oben springen

#13

RE: Trendsetter oder die Diktatur des Zeitgeistes

in Allgemeine philosophische Betrachtungen 03.06.2019 12:07
von kuschelgorilla | 3.292 Beiträge

Hier ein paar Stilblüten des Zeitgeistes im Wandel...

https://www.focus.de/immobilien/energies..._0qZTsen6O-On_A

Mein Frauchen und ich, wir sind uns sehr einig. Hinweise für den Anderen gibts, wenn der zu gedankenlos wird. Aber ohne böse Worte.


Meine Motivation ging heute morgen winkend und lächelnd an mir vorbei


zuletzt bearbeitet 03.06.2019 12:13 | nach oben springen

#14

RE: Trendsetter oder die Diktatur des Zeitgeistes

in Allgemeine philosophische Betrachtungen 03.06.2019 15:18
von all it (gelöscht)
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Zitat von kuschelgorilla im Beitrag #12
Liebes moorhuhn, lieber till,

damit zeigt ihr die zwei Seiten ein und derselben Medaille...
Gut? Schlecht? Weder das eine noch das andere. Beides wird gebraucht.
Dennoch bin ich der Meinung, dass es mehr unabhängige Forschung/Wissenschaft braucht.
Ich denke da vor allem daran, dass man eigentlich schon 1979 alle wichtigen Fakten zum Klimawandel an der Hand hatte, Konzerne aber, als es Ende der 80er ans Eingemachte hinsichtlich einer internationalen Konvention ging, massiv mit Gegenstudien eine Gegenstimmung aufbauten, so dass wir bis heute noch nichts auf die Beine stellen konnten.

Die Diktatur des Zeitgeistes sagt hier:
Ökonomen, so wie ihnen gesagt würde, die Welt ginge in zwei Wochen unter, wenn man nichts unternähme, würden sich immer für den kurzfristigen Profit entscheiden. Leider sind viel Annahmen der Ökonomen, auf die deren "Systeme" sich aufbauen, schlichtweg unvollständig bis falsch.
Wir haben (noch) ausreichend unabhängige Forschung, gerade auch im Bereich Klimatologie. Hätten wir die nicht, wüssten wir so gut wie nichts über den Klimawandel und es gäbe keine erdrückende Mehrheit von Wissenschaftlern, die die Ursachen benennen und vor den Folgen warnen. Und entscheiden tun die Politiker, nicht die Ökonomen; letztere müssten immerhin in der Lage sein, langfristige Schäden gegen kurzfristigen Profit gegenzurechnen. Das Verhalten der Politik hat die SZ auf den Punkt gebracht: "Union und SPD unterliegen der Illusion, sie könnten den Klimaschutz so organisieren, dass er keinem wehtut. Davon sollten sie sich schnell verabschieden."

Was die Geisteswissenschaften betrifft, so leisten wir uns immer noch Studiengänge für Philosophie, Germanistik usw. Und gerade für die Germanisten ist der Arbeitsmarkt besser als viele denken. Allerdings muss man bereit sein, auch praxisbezogen zu studieren; wer die reine Lehre bevorzugt, hat es wahrscheinlich schwer; Stellen an der Uni sind halt rar und angesichts der großen Zahl Studierender kann es nicht für jeden eine Professur geben.



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#15

RE: Trendsetter oder die Diktatur des Zeitgeistes

in Allgemeine philosophische Betrachtungen 03.06.2019 15:27
von all it (gelöscht)
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Zitat von moorhuhn im Beitrag #11
Ich habe z.B. eine ehemalige Schülerin und sehr gute Bekannte, die hat Ägyptologie studiert und einen Doktor in Germanstik gemacht. Bis auf gelegentliche Honorarjobs ist sie auf dem Arbeitsmarkt nicht angekommen und lebt mit 40 in ihrem Elternhaus.

Aus einem Einzelfall Schlüsse zu ziehen ist schwierig. Ich habe mal im Fernsehen einen exemplarischen Bericht über Studienabgänger gesehen. Darunter war ein junge Frau, die ihr Chemie-Studium mit besten Noten abgeschlossen hat (ich meine sogar Doktor summa cum laue); trotzdem hat man ihr nur Praktikumsplätze angeboten.
Vor zwanzig Jahren hat mir eine Kollegin mal von einer Party erzählt, auf der sie sechs oder sieben fertige Maschinenbau-Ingenieure getroffen hat. Einer hatte einen Job gefunden, alle anderen waren arbeitslos. Fünf Jahre später hat man händeringend Ingenieure gesucht.
Ich glaube nicht, dass solche Probleme etwas mit "Zeitgeist" zu tun haben.



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