#1

Hiob – oder: Jeder ist selber schuld

in Religion und Ethik 02.05.2020 10:13
von Anthea | 12.411 Beiträge

Leider hatte der alte Mann einen Schlaganfall erlitten, der ihn in den Rollstuhl zwang. Daraus kämpfte er sich trotz einseitiger Lähmung eines Arms durch viel Eigeninitiative und Geduld wieder raus. Dann jedoch stürzte er und zog sich eine schmerzhafte Prellung zu.

Da der Mann auf dem Land in einem kleinen Dorf lebte, sprach sich das natürlich schnell herum. Und somit erhielt er Besuch. Es waren die „Zeugen Jehovas“, die „Hallelujah-Singers“, wie er sie für sich nannte. Er bot ihnen einen Kaffee oder Tee an, sie lehnten ab. Genau so wie er ablehnte, mit ihnen den Rosenkranz zu beten oder aus der Bibel zu lesen. Sie erklärten ihm, dass das, was ihm widerfahren war, eine Strafe für seine Sünden sei…. Er wollte ihnen seinen kleinen Garten zeigen, auf den er stolz war, hatte er ihn doch selbst angelegt und pflegte ihn. Sie lehnten ab. „Wir wollen dir helfen“ wiederholten sie stattdessen immer wieder und zogen schlussendlich herumlamentierend von dannen.

Der nächste Besuch ließ nicht auf sich warten. Es waren die "Lichtkrieger", eine Gruppe, die sich viel mit dem esoterischen Judentum befasst, Bibelstellen zitiert, die in ihr Konzept passen und moderne Veganer und Antisexisten sind. „Wir wollen dir helfen“ sagten sie, sprachen jedoch nicht mehr von „Sünde“ sondern von Verantwortung. Von „Selbstverantwortung“, die in die Freiheit führen würde. Sie seien keine „Leidensverherrlicher“ wie die Christen, sondern bauten auf Selbstverantwortung. Mit ihnen ließ sich noch weniger reden oder Gegenargumente bringen als mit den Zeugen Jehovas. Sie waren absolut lernresistent.

Und passten eigentlich gut in den politischen Mainstream mit dem Sozialabbau. Nach einer Zeit komplimentierte der alte Herr auch diese hinaus.

Und wartete auf den dritten Besucher, den Bürgermeister, der die Villa am Dorfrand gekauft hatte. Der alte Herr fragte sich, ob er wohl mit einem Pferd seines Gestüts würde angeritten kommen oder sein Chauffeur einen Wagen seines Fuhrparks bewegen würde… Er würde ihm wohlwollend auf die Schulter klopfen und sagen, dass alles machbar sei und er doch das beste Beispiel sei. Und stolz auf seine eigene Karriere hinweisen, er, der Sohn eines einfachen Arbeiters…“Jeder ist seines Glückes Schmied“.

Was hielt bereits Henry Ford den Sozialisten entgegen? „Wenn jeder drauf schaut, dass es ihm selber gut geht, geht es allen gut.“

Ist das nicht ein Fokus egozentrischer Kurzsichtigkeit?

Was hatten nun alle drei Besucher gemeinsam: Sie spielen mit der Angst vor der Unwägbarkeit des Schicksals…Und der Stein der Weisen als Lösung ist fern.

Hilf dir selbst, dann hilft dir – das Glück? Hat sich Gott hinter den Wolken versteckt?

---


Ich bin der Wahrheit verpflichtet, wie ich sie jeden Tag erkenne, und nicht der Beständigkeit.
Mahatma Gandhi


zuletzt bearbeitet 02.05.2020 10:17 | nach oben springen

#2

RE: Hiob – oder: Jeder ist selber schuld

in Religion und Ethik 02.05.2020 16:59
von Atue (gelöscht)
avatar

Zwei Seelen wohnen, ach in meiner Brust...

Und neben denen, die Faust im Original gemeint hat, gibt es auch den Dualismus zwischen Egoismus und Altruismus.
Beides gehört zum Menschen dazu.

Selbst Ford hat seinen Ansatz ja nicht so gemeint, dass jeder nur egoistisch sein dürfe - sondern das gepaart damit, dass er seine Arbeiter wohl bezahlt hat. Es war die Mischung aus durch Automation gesenktem Preis und dem höheren Einkommen für seine Arbeiter, was Ford näher an sein Ideal gebracht hat, dass jeder seiner Arbeiter sich ein Auto aus seiner Produktion leisten können soll.

Es ist der Altruismus, der uns immer wieder auch dem nächsten helfen lässt - und aus der Spieletheorie bekannt und inzwischen gut erforscht ist auch, dass es für uns Menschen offensichtlich günstiger ist, zusammen zu arbeiten, also auch mal in den Nächsten zu investieren.

Den Spruch "Spare in der Zeit, dann hast du in der Not" könnte man in diesem Zusammenhang auch so umformulieren: Wer in guten Zeiten immer wieder mal auch Gutes seinen Nächsten getan hat, der kann in schlechten Zeiten darauf hoffen, dass auch ihm geholfen wird.

Wie immer gibt es dafür keine Garantie im Einzelfall - aber über alle Menschen hinweg ist diese Empfehlung statistisch messbar die bessere Strategie für ein erfolgversprechendes Leben, auch dann, wenn es mal nicht so gut läuft.

Dass ein wie auch immer gearteter Gott dabei eine wesentliche Rolle spielt, halte ich nicht für notwendig. Man mag sich an Gott wenden, wenn man in Not ist - mir fehlen noch immer bis heute wirksame und überzeugende Beispiele dafür, dass dann auch wirklich geholfen wird. Psychisch scheint es aber zu helfen, wenn man einen Strohhalm hat, an dem man sich klammern kann - das ist ja auch schon was wert.

Ist jeder selbst schuld?
Wohl eher nicht - es gibt viele Dinge auf der Welt, für die der einzelne nichts oder nur wenig kann. Und auch bei Schlaganfällen mag es vielleicht sogar gewisse medizinische und lebenstechnische Umstände geben, die diese begünstigen oder eher verhindern - letzten Endes aber spreche ich erst dann richtig von Schuld, wenn der Betroffene sich dessen auch bewusst ist, oder wenigstens hätte bewusst sein können.

Die drei Besucher kann man getrost nach Hause schicken - letzten Endes brauchen die drei mehr Hilfe als der alte Mann.Letzten Endes sollte der alte Mann sich ein Pfeifchen anzünden, einen Cognac in den Kaffee bringen, und sich in seinen wunderschönen Garten setzen und das Leben so genießen, wie es ihm noch möglich ist. Wenn er damit glücklich ist, hat er alles richtig gemacht.



denker_1 hat sich bedankt!
nach oben springen



Besucher
0 Mitglieder und 5 Gäste sind Online

Besucherzähler
Heute waren 95 Gäste , gestern 567 Gäste online

Forum Statistiken
Das Forum hat 2267 Themen und 50201 Beiträge.

Heute waren 0 Mitglieder Online: