#1

Schuldig a priori?

in Deutschland 19.10.2019 09:14
von Anthea | 12.409 Beiträge

Und viele Menschen der Kategorie „entnazifiziert“ jetzt schon „post mortem“ für schuldig gesprochen?

Ein Gerichtsentscheid im Zuge des Prozesses gegen einen früheren 93-jährigen KZ-Wachmann wirft aus meiner Sicht eine Menge an Fragen hinsichtlich der Rechtmäßigkeit auf.

"74 Jahre ist es her, dass Bruno D. in dem KZ seinen Dienst verrichtete. Ihm wird nicht vorgeworfen, selbst jemanden umgebracht zu haben. Doch der heute 93-Jährige muss sich nun vor Gericht verantworten, weil er die „heimtückische und grausame Tötung insbesondere jüdischer Häftlinge unterstützt“ habe, heißt es in der Anklage gegen den betagten Mann.
„Weil er nicht „kriegsverwendungsfähig“ gewesen sei, sei er zum Wachdienst „verdonnert“ worden. Früher seien nur solche Täter verurteilt worden, die an Tötungen unmittelbar beteiligt waren. „Für die einfachen Wachleute interessierte sich niemand.“ Der Justiz sei seit Jahrzehnten bekannt gewesen, dass der Angeklagte einfacher Wachmann gewesen sei. Wenn er jetzt vor Gericht gestellt werde, sei dies eine „rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung“, sagte der Verteidiger.“ Quelle Abendblatt

Das ist die eine Seite. Aber dazu gibt es auch eine besondere Logik. Nehmen wir einen Mitarbeiter, dem es als Arbeitnehmer egal ist, ob sein Firmenchef Nähmaschinen oder Waffen herstellt. Im letzteren Falle ist ihm z.B. bekannt, dass die Waffen zum Töten an spezielle Länder geliefert werden mit denen dann später u.U ein Massaker veranstaltet wird. War er dann in ihrem Job „unterstützend tätig“ weil er vielleicht Lieferscheine ausgestellt und für Logistik verantwortlich war.
Und wenn es in dem Artikel weiter heißt, dass wegen des Alters des Angeklagten (17 resp. 18 Jahre) das Verfahren vor dem Jugendstrafgericht stattfindet, dann wird es weiterhin unerträglich seltsam.

„[...]Bruno D. nicht das „Mastermind“ des Holocaust seien, hätten sie doch daran teilgehabt, sagte Zuroff. Heute sei der Angeklagte zwar ein alter Mann und wohl auch gesundheitlich geschwächt. „Aber damals war er jung und auf dem Höhepunkt seiner Kraft.“

Rein theoretisch kann man jetzt aus den hintersten Winkeln Menschen hervorholen, die etwas für die Hitler-Tötungsmaschinerie getan haben – und sei es nur Kleidung genäht."Untrstützend tätig".

Ich bin eine große Befürworterin strengster Bestrafungen, gerade im Fall der Nazi-Verbrechen. Aber solch ein Prozess jetzt ist – mal wieder – unerträglich. Ich denke, das ist der Tatsache gewidmet, dass sich die Deutschen nach Kriegsende nie wirklich ihrer Schuld gestellt haben. Da wurde die Vogel Strauß Politik angewandt. Man „bekannte“ zwar mit Worten „So etwas darf nie wieder geschehen“ und legte vorzugsweise den Mantel des Schweigens drüber.

Und last but not least: Da feiern heute wieder Neo-Nazis diesen Ungeist. Die grauenhaften Schilderungen von Tötungen im Artikel wird für solche Leute schöner sein als ein Horrorfilm im Fernsehen. „Back to roots“ . Ernst gemeint.

Was haltet ihr von solch einem Prozess, beziehungsweise einer „Aufarbeitung“?

https://www.abendblatt.de/hamburg/articl...benklaeger.html

---


Ich bin der Wahrheit verpflichtet, wie ich sie jeden Tag erkenne, und nicht der Beständigkeit.
Mahatma Gandhi


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#2

RE: Schuldig a priori?

in Deutschland 19.10.2019 09:37
von heiner | 881 Beiträge

Wenn der Mann sich schuldig gemacht hat, so hätte das schon vor Jahrzehnten vor Gericht verhandelt werden müssen. Dass das nicht geschehn ist, wirft kein gutes Licht auf die Strafverfolgungsbehörden. Dass man den alten Mann ohne Beweis, "a priore" verurteilen möchte, erscheint mir unwahrscheinlich. Vermutlich lässt sich, wenn er denn Verbrechen begangen hat, das nicht mehr gesichert nachweisen & er wird einen Freispruch für die Kurze Zeit seines noch zu erwartenden Lebens bekommen. Die entscheidenden Versäumnisse in dieser Sache sind in der Vergangenheit angesiedelt, irgendwo in der Rechtsgeschichte Bundesrepublik Deutschland.


dass ein Traum nicht wahr ist, sehe ich ein, dass er wahr werden kann, auch.
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#3

RE: Schuldig a priori?

in Deutschland 19.10.2019 11:04
von Meridian | 2.861 Beiträge

Man stelle sich vor, dass z.B. in 10 Jahren ein Klima-Regime an die Macht kommt, das die Forderungen von Greta Thunberg ohne Rücksicht auf Verluste umsetzt und alle bestraft, die einmal in einem Unternehmen gearbeitet haben, das für hohen CO2-Ausstoß bekannt war. Dann kann es nach der Logik des in diesem Thread eröffneten Falles selbst eine ehemalige Praktikantin erwischen, die beim Unternehmen RWE ein Praktikum als Sekretärin machte. Vorwurf: Unterstützung der Emission klimaschädlicher Gase.

Oder es erwischt sogar mich: In DE habe ich zwar meist Ökostrom bezogen, aber während meiner Zeit in England habe ich Strom von E.on bezogen. Anklage: Meine "Untat" war zwar im Ausland, aber ich war dort weiterhin deutscher Staatsbürger und habe Strom von einem Unternehmen bezogen, dessen Hauptsitz in Deutschland war und dessen zumindest damalige Philosophie keineswegs klimafreundlich war.

Genauso auch Antheas Beispiel mit dem Waffenexport. Sollte eine Zeit kommen, in der jeglicher Waffenexport illegal und streng verfolgt ist, kann es jeden (ehemaligen) Mitarbeiter u.a. von Siemens erwischen, auch wenn er bei der Fertigung von Siemens Windrädern oder von Hochgeschwindigkeitszügen (ICE 3 oder 4) beschäftigt war. Siemens ist halt ein typisches Produkt der Globalisierung, und zwar insofern, dass es an allen profitablen Schand- und Wohltaten der Weltwirtschaft beteiligt ist. Das meine ich ohne Vorwurf.

Zum Fall des ehemaligen KZ-Mitarbeiters. Bestimmt hat er sich nicht mit Ruhm bekleckert. Aber wie kann so einer ahnen, wie lange das Dritte Reich halten würde? Hätte Hitler sein Reich innerhalb der deutschen Grenzen belassen, hätte er bestimmt viel länger regieren können. So hat es z.B. Franco gehalten. Er sympathisierte zwar mit Hitler, hielt sich aber während des 2. WK streng neutral. Dafür konnte er bis zu seinem Tod 1975 regieren.

Generell sollte dieser Fall uns zu denken geben. Was ist, wenn wie in den oberen 2 Beispielen es zu einem derartigen Systemwechsel kommt, dass uns auf einmal bestimmte Taten vorgeworfen werden, die für uns bis dahin selbstverständlich und nicht verwerflich waren? Ich gehe ja selbst davon aus, dass die BRD in ihrer jetzigen Form noch einige Zeit weiter existieren wird, aber weiß man es? Nichts ist ewig.


Die äußere Welt ist der Spiegel deines Inneren.


zuletzt bearbeitet 19.10.2019 11:05 | nach oben springen

#4

RE: Schuldig a priori?

in Deutschland 19.10.2019 11:14
von Anthea | 12.409 Beiträge

Zitat von heiner im Beitrag #2
Wenn der Mann sich schuldig gemacht hat, so hätte das schon vor Jahrzehnten vor Gericht verhandelt werden müssen. Dass das nicht geschehn ist, wirft kein gutes Licht auf die Strafverfolgungsbehörden. Dass man den alten Mann ohne Beweis, "a priore" verurteilen möchte, erscheint mir unwahrscheinlich. Vermutlich lässt sich, wenn er denn Verbrechen begangen hat, das nicht mehr gesichert nachweisen & er wird einen Freispruch für die Kurze Zeit seines noch zu erwartenden Lebens bekommen. Die entscheidenden Versäumnisse in dieser Sache sind in der Vergangenheit angesiedelt, irgendwo in der Rechtsgeschichte Bundesrepublik Deutschland.


Lieber heiner, du hast den Artikel nicht richtig gelesen, sorry.
Es ist schon klar, dass er selbst niemanden getötet hat. Der Beweis ist wohl erbracht. Er hat "nur" Wache gestanden,

Im Grunde genommen ist das ganze deutsche Volk schuld, denn sie alle haben es gewusst, was passierte, wenn Judentransporte wegfuhren...Und sie haben keinen Einhalt geboten.
Fahnenflüchtigen würde demnach heute noch ein Verdienstorden zustehen.

Das ist für mich ein "Schauprozess". Eine Farce.


Ich bin der Wahrheit verpflichtet, wie ich sie jeden Tag erkenne, und nicht der Beständigkeit.
Mahatma Gandhi


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#5

RE: Schuldig a priori?

in Deutschland 19.10.2019 12:19
von Findus | 2.521 Beiträge
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#6

RE: Schuldig a priori?

in Deutschland 20.10.2019 12:29
von kuschelgorilla | 3.292 Beiträge

Wenn man heutzutage derartige Schauprozesse aufmacht, sollte man sich auch mal fragen, warum es in der Nachkriegszeit versäumt wurde, diese Menschen als Täter vor Gericht zu bringen. Warum hat man seitens der Westalliierten zu Anfang nur die "leitenden Angestellten" des Regimes zur Verantwortung gezogen? Weil man noch Personal brauchte, das diesen Staat leiten konnte - damit dieser Staat ein Bollwerk gegen den Bolschewismus sein konnte... Jetzt wo wir unsere Schuldigkeit getan haben und der Bolschewismus scheinbar besiegt scheint, werden die ollen Kamellen wieder ausgepackt... Da dreht und wendet man die Geschichte, wie man es gerade so will... - einfach nach Gutdünken...


Meine Motivation ging heute morgen winkend und lächelnd an mir vorbei


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